Der Terrorismusforscher Stockhammer sieht in der Tat von Magdeburg ein Phänomen, das immer häufiger auftritt. Forscher nennen das Salatbar-Extremismus.
23.12.2024, SALZBURGER NACHRICHTEN
Seit Freitagabend verdichten sich die Informationen über den mutmaßlichen Attentäter von Magdeburg und Hinweise auf mehrfache Auffälligkeiten. Das Täterbild bleibt aber widersprüchlich. Ein Gespräch mit dem Wiener Terrorismusforscher Nicolas Stockhammer.
Ist es schlichtweg nicht möglich jede auffällige Person im Blick zu behalten oder wurden an der Stelle irgendwelche Dinge übersehen nach dem Stand, den wir kennen?
Nicolas Stockhammer: Es ist sicherlich nicht auszuschließen, dass die Behörden etwas übersehen haben, Hinweise nicht ernst genug genommen oder auf die lange Bank geschoben haben. Aber man muss fair bleiben. Solch einen Fall muss man immer im zeitlichen Kontext sehen und eine Bedrohungseinschätzung vor diesem Hintergrund betrachten. Man macht es sich zu leicht, aus der Ex-Post-Perspektive zu sagen: Es lag einiges vor und dem wurde nicht entsprechend nachgegangen.
Aber es lag einiges vor?
Bekannt wurde zum Beispiel, dass das Bundesamt für Migration und Fremdenwesen in Deutschland einen Hinweis von einer Person erhalten hatte. Bekannt wurde, dass ein Hinweis an eine Landespolizeibehörde gegangen ist. Da hätte man schon sagen können, wir schauen uns diese Person genauer an.
Allerdings ist das Bild diffus?
Die zahlreichen Social-Media-Postings, die offenkundig werden, sind teilweise massiv widersprüchlich. Sie deuten auf jeden Fall darauf hin, dass diese Person ein gewisses Aggressionspotenzial hat, und dass schon seit geraumer Zeit. Zweitens ist sie ideologisch nicht sehr trennscharf kategorisierbar. Es gibt einerseits Postings, wo AfD-Beiträge geliked wurden, und andererseits, wo offenbar mit einem ehemaligen IS-Mann Kontakt aufgenommen wurde. Der kleinste gemeinsame Nenner ist der Hass auf Saudi-Arabien. Es spielt also nicht nur ein Hass gegen den Islam oder Islamismus eine Rolle, sondern auch eine große Phobie oder Antipathie gegenüber Saudi-Arabien.
Individuelle Auffälligkeiten?
Es deutet einiges auf eine psychische Störung beim Attentäter hin. Das ergibt ein Konglomerat aus vielen Faktoren, die so eine Tat offenbar ermöglicht haben.
Sie sind noch vorsichtig?
Es gibt auch viele Falschmeldungen. Was die Behörden auf jeden Fall bereits gesagt haben, ist, dass es Hinweise darauf gibt, dass es ein islamfeindliches Motiv sein kann und eine Mischung aus Staatsfeindlichkeit sowie etwas, was wir Salatbar-Extremismus nennen. Wir sehen dieses Phänomen immer öfter und nennen es so, weil sich jemand quasi wie von der Salatbar Häppchen von Salatmischungen holt, die metaphorisch für die verschiedenen Ideologien stehen. Die ideologischen Fragmentierungen sind keine geschlossenen Gebäude mehr. Es ist möglich, aus Ideologiefragmenten Anleihe zu nehmen.
Solch ein Typus ist schwierig zu beobachten, weil er in kein Raster passt. Müssen Sicherheitsbehörden sich anpassen?
Auf jeden Fall. Es gibt mittlerweile in Deutschland und Österreich, Strukturierungen, die das ins Kalkül ziehen. Man hat das nur bisher eher als Ausnahme betrachtet. Deswegen wurde das auch nicht so trennscharf kategorisiert.
Was bedeutet das?
Man hat hier noch eine Ausbaustufe der Lernfähigkeit. Es gibt schon eine Kategorisierung, die nicht rechts- oder linksextremistisch und nicht islamistisch ist. Nun muss man mit damit umzugehen lernen. Ein Beispiel ist der Attentäter vom Olympia-Einkaufszentrum in München. Der junge Mann mit iranischem Migrationshintergrund wurde zuerst als Islamist eingestuft, der dann aber ein klares rechtsextremistisches Motiv an den Tag gelegt hat. Was aber in München zumindest klar wurde, war die Opferselektion. Der Täter hat bewusst Personen mit Migrationshintergrund attackiert. Das war in Magdeburg nicht der Fall. Das ist der Grund, warum wir Terrorismusforscher derzeit noch ein Fragezeichen sehen.