Gegenüber den Versprechen der neuen islamistischen Machthaber in Syrien ist Skepsis angebracht. International steigt jedenfalls die Terrorgefahr.
13.01.2025, DER PRAGMATICUS
Nachdem die islamistische Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) und ihre Alliierten das Regime des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad gestürzt und die Macht in Syrien übernommen haben, hat sich ihr Anführer, Ahmed al-Scharaa – besser bekannt unter seinem nom de guerre „Abu Mohammad al-Jolani“ –als zentrale Figur der Post-Assad-Ära in Stellung gebracht. Zwar hat er jahrelang daran gearbeitet, sich zumindest nach außen hin von seinen al-Qaida-Wurzeln zu distanzieren. Dennoch stellt sich die Frage, ob das Land angesichts seiner fragilen Staatlichkeit und des islamistischen Backgrounds der HTS nicht erneut zu einem sicheren Hafen für Terrorgruppen wie den Islamischen Staat (IS) werden könnte.
Und es gibt noch eine potenzielle Terrorquelle: Die HTS hat eine Reihe von ausländischen Kämpfern rekrutiert, hauptsächlich aus dem Kaukasus, Zentralasien und der uighurischen Minderheit. Einige dieser Untergruppen werden vom Westen ebenfalls als terroristische Organisationen eingestuft. Gleichzeitig bestehen berechtigte Sorgen über mögliche Überreste des Chemiewaffenprogramms des Assad-Regimes. Obwohl die israelischen Streitkräfte durch gezielte Luftangriffe versucht haben, die Chemiewaffenanlagen in Syrien zu zerstören, bleibt unklar, ob tatsächlich sämtliche Kapazitäten zerstört werden konnten.
Zudem bleibt fraglich, wie die HTS mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt umgehen wird, insbesondere in Bezug auf die Hamas. Die Hamas hatte jahrelang eine Basis in Damaskus und könnte nun versuchen, erneut eine Präsenz dort aufzubauen, nachdem sie in Gaza geschwächt und international diskreditiert worden ist. In der Vergangenheit hatte die HTS die Hamas unterstützt und auch den Terror vom 7. Oktober 2023 gutgeheißen. Sie positioniert sich weiterhin offen pro-palästinensisch. Ob die neue Regierung der Hamas jedoch offiziell einen Rückzugsort in Syrien anbieten würde, bleibt eine der zentralen offenen Fragen.
Die Hayat Tahrir al-Sham wurde 2011 unter dem Namen Jabhat al-Nusra (al-Nusra Front) von Mitgliedern des IS und der al-Qaida gegründet. Al-Jolani hatte sich im Irak Abu Musab al-Zarqawi und seiner al-Qaida angeschlossen. Nach Beginn des syrischen Aufstands 2011 gründete er auf Anweisung von Abu Bakr al-Baghdadi – der spätere selbsternannte „Kalif“ des Islamischen Staates – die Gruppe Jabhat al-Nusra.
Aufgrund interner Querelen distanzierte sich al-Jolani 2013 von al-Baghdadi, nachdem dieser die Gründung des IS öffentlich gemacht hatte, und leistete dem damaligen Anführer von al-Qaida, Ayman al-Zawahiri, die Treue. Die Jabhat al-Nusra wird von den Vereinten Nationen, den USA, der Türkei und anderen Staaten bis heute als terroristische Organisation eingestuft.
Im Jahr 2017 vollzog al-Jolanis Gruppe einen strategischen Wandel: Sie distanzierte sich öffentlich von al-Qaida, löste die Jabhat al-Nusra auf und verschmolz mit anderen gleichgesinnten Milizen und Rebellengruppen zur HTS. Diese Entwicklung spiegelte den gezielten Übergang vom globalen Jihad hin zu einem lokalen Regierungsanspruch wider, wenngleich die HTS weiterhin strenge islamistische Grundsätze verfolgt und strukturelle Ähnlichkeiten mit den Taliban aufweist.
Trotz anhaltender Zweifel über eine vollständige Lossagung von al-Qaida bemüht sich die Organisation um Anerkennung als pragmatische Alternative zum gestürzten Assad-Regime. In den letzten Wochen propagierte die HTS eine Botschaft der Inklusivität und sprach sich gegen Gewalt oder Rache aus. Gleichzeitig werden der Gruppe schwere Menschenrechtsverletzungen und interne Konflikte mit anderen Oppositionsgruppen vorgeworfen, die ihre Glaubwürdigkeit massiv untergraben.
Der Zusammenbruch des Assad-Regimes ist nicht allein auf die HTS und deren Verbündete zurückzuführen. Mehrere Rebellengruppen im gesamten Land erhoben sich in einem koordinierten Widerstand. Besonders bemerkenswert war die Beteiligung von Fraktionen, die einst unter dem Banner der „Freien Syrischen Armee“ aus dem Süden agierten. Diese Gruppen, die lange Zeit inaktiv waren, hatten den Funken des Widerstands nie vollständig verloren.
Im Osten des Landes nutzten kurdisch geführte Kräfte den Zusammenbruch der syrischen Armee, um die Kontrolle über die strategisch wichtige Stadt Deir ez-Zor zu übernehmen. Gleichzeitig könnten Überreste des IS in den Weiten der syrischen Wüste versuchen, aus der neuen Lage Kapital zu schlagen.
Im Norden entlang der türkischen Grenze spielt die von Ankara unterstützte „Syrische Nationale Armee“ eine potenziell entscheidende Rolle. Entscheidend wird sein, ob die Türkei ihren Druck auf die Kurden in Syrien weiterhin aufrechterhalten möchte, und wie dies zu einer weiteren destabilisierenden Eskalation führen könnte. Man darf davon ausgehen, dass sowohl die US-Regierung als auch die EU derzeit Gespräche mit Ankara zu diesem Thema führen.
Die politische Zukunft Syriens wird indes nicht nur von internen Akteuren wie HTS und anderen Rebellengruppen bestimmt: Russland und Iran, die jahrelang Assad unterstützten, stehen vor der Herausforderung, ihre strategischen Interessen in einer neuen politischen Umgebung zu wahren bzw. neu zu definieren. Die Türkei, die mehrere lokale Rebellengruppen unterstützt, könnte versuchen, ihren Einfluss im Norden Syriens auszubauen. Gleichzeitig bleibt die amerikanische Präsenz in den kurdisch kontrollierten Gebieten im Osten des Landes ein wesentlicher Faktor im komplexen Machtgefüge. Die EU muss ihre Position wohl erst finden. In Brüssel hingegen regiert wie so oft das Primat der vorsichtigen Zurückhaltung.
Neben den politischen sind es insbesondere die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen, die Syrien nach Jahren des Krieges belasten. Die humanitäre Lage ist katastrophal, Millionen Menschen sind weiterhin auf der Flucht, und die Infrastruktur des Landes liegt in Trümmern. Internationale Hilfe wird dringend benötigt, doch die politischen Spannungen erschweren koordinierte Hilfsmaßnahmen. Zudem steht die internationale Gemeinschaft vor dem Dilemma, ob und wie sie mit einer Organisation kooperieren soll, die mit islamistischem Extremismus in Verbindung gebracht wird.
Gleichzeitig bleibt unklar, ob die HTS bereit ist, Reformen durchzuführen, die den Weg zu Stabilität und Frieden ebnen könnten. Die Spannungen zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen in Syrien, die wirtschaftlichen Wunden des Krieges und die gegensätzlichen geopolitischen Interessen externer Akteure machen die Zukunft des Landes noch unvorhersehbarer.
Die Führungskader der HTS geben sich als de-facto-Herrscher über Syrien gezielt den Anstrich eines moderaten und legitimen Gesprächspartners für ausländische Regierungen. Man reklamiert für sich, den skrupellosen Diktator Assad aus dem Land gejagt und deshalb eine Chance verdient zu haben, zu zeigen, dass man es mit Reformen und Rechtsstaatlichkeit ernst nehme.
Der sicherheitspolitische Realismus gebietet demgegenüber große Skepsis. Es ist nicht anzunehmen, dass die HTS ihre islamistischen Wurzeln verleugnen wird, um dem Westen zu gefallen, auch wenn es vielleicht kleinere „Zugeständnisse“ geben wird.